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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel1996-10-24 → Die Beistriche aus den Unterhosen radieren
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Weltwoche

Die Weltwoche, , nr. 43

Die Beistriche aus den Unterhosen radieren

Sie lässt sich nicht einfach wie ein neues Waschbecken installieren – Trotzdem: Ein Plädoyer für die Rechtschreibreform

, 1967 in Vöcklabruck geboren, lebt als Schriftsteller in Wien. Ingeborg-Bachmann-Preis 1995, zuletzt: «Schinkensünden», «Das Beuschelgeflecht», «Eine Obsession»

Man hat gelernt, im Leben oder in der Schule, wie Welt zu sehen ist und wie man sie in Sprache wiedergibt. Die Orthographie und das Regelwerk der Grammatik schreiben vor, wie man zu schreiben hat, wenn man anständig und ein guter Mensch ist, und sind somit quasi ein Knigge für gute Manieren im schriftlichen Sprachgebrauch.

Mit dem Mund redet ohnehin jeder, wie er ihm gewachsen ist. Und das soll alles plötzlich nicht mehr stimmen? Mit einem Mal soll man mit der Zunge vom Messer schlecken dürfen und bekommt obendrein noch recht? Die flegelhaften Beistrichsetzer* und Meionäsetüpfler benehmen sich unversehens besser als alle sattelfesten Aufsatzkönige? Gewiss, das ist zuerst einmal ein Schock. Da wird an Grundfesten gerüttelt und mit gräulichen Schnäuztüchern eine letzte Bastion unserer Werte gestürmt – und so etwas bringt selbstverständlich Angst und Unmut in die Welt.

Wer hat sich schon freiwillig vor 150 Jahren in eine Eisenbahn gesetzt, und wer vor 15 Jahren hinter einen Computer? Gott ist unbeweisbar, die politischen Strukturen bröckeln davon, die Mode erlaubt keine klassifizierenden Vorurteile mehr, undurchsichtig ist das Weltall, und auch sonst kann man sich auf nichts mehr verlassen, und da klopft auch noch die Rechtschreibreform an die heile Tür eines ansonsten brüchigen Gebäudes.

Und vor Reformen hat jeder immer Angst, in Österreich besonders. Um so mehr verwundert, dass es nicht die sogenannten kleinen Leute sind, sondern die grossen Dichter, die diesem Unmut Luft verschaffen. Die ihnen auf der Brust brennenden Argumente gehen vom Vorwurf der Inkonsequenz bis zum Wozu brauchen wir jetzt das. Und wenn Protest-Flugblätter erst einmal ins Laufen kommen, finden sich auch schnell die sie füllenden Krähenfüsse. So scheint es, wird die Frucht von sicher unzähligen wissenschaftlichen Arbeitsausschüssen auf ein recht fauliges Niveau gepresst.

Dabei bietet gerade die Rechtschreibreform, so inkonsequent sie auch sein mag, erste Ansätze, die engen orthographischen Fesseln der ohnehin nicht leichten deutschen Sprache etwas zu lockern. Da es nach wie vor die Benutzer des restringierten Sprach-Codes sind, also meist die Kinder sogenannt ärmlicher Verhältnisse, die dem elaborierten Code ihren Zehent zahlen müssen, macht die angestrebte Vereinfachung der Rechtschreibreform in jedem Fall Sinn. Erst recht, wenn man bedenkt, wie viele Berufswege noch immer mit den ersten Schuljahren begehbar oder unzugänglich werden. Die Ergebnisse der meisten IQ-Tests beruhen wesentlich auf dem Sprachvermögen.

Eben deshalb war es auch die 68er Generation, die einen massiven Wunsch nach einer solchen Rechtschreibreform äusserte, die sich drei Jahrzehnte danach ansatzweise endlich anzubahnen scheint. Um so mehr überrascht mich der Einwand der Dichter. Doppelt, wenn man die Reform- und Streitpunkte näher betrachtet.

Die eingedeutschte Schreibweise von Fremdwörtern wird angeboten, aber nicht vorgeschrieben, ebenso die Setzung des Beistriches bei Infinitiv- und Partizipialgruppen sowie zwischen gleichrangigen Teilsätzen. Die Silbentrennung richtet sich nach der Aussprache, und wenn in einem Wort drei Buchstaben zusammentreffen, werden wie in der Schifffahrt immer alle drei geschrieben. Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung gibt es mehr Freiheiten als bisher, und die Höflichkeitsanrede Du wird konsequent klein geschrieben, Sie gross. Das «ß» gibt es nur noch nach langem Vokal oder Zwielaut. Als Schwierigkeiten bleiben lediglich einige Punkte in der Gross- und Kleinschreibung sowie diverse etymologisch begründete Änderungen wie Stängel und Quäntchen.

Aber wenn man berücksichtigt, dass die einheitlich normierte Rechtschreibung im Deutschen noch keine hundert Jahre alt ist, sind auch diese Dinge eher Lappalien und wenigstens an einem Vormittag erlernbar. Die einstweiligen Änderungen sind zwar von der ursprünglichen Forderung nach einer konsequenten Kleinschreibung und der Abschaffung des Beistrichs noch weit entfernt, aber zumindest werden nicht nur mehr Freiräume geschaffen, sondern es wird vielleicht auch ein erster Schritt auf einem langen Weg probiert, dem man nicht gleich den Boden abgraben sollte, bevor er überhaupt getan ist.

Selbstverständlich kann man nicht von heute auf morgen, was der ehemalige Trainer der österreichischen Fussballnationalmannschaft, Ernst Happel, einmal forderte, nämlich die Beistriche aus den Unterhosen seiner Spieler radieren, und genausowenig kann man auch eine geänderte Rechtschreibung nicht ohne weiteres wie ein neues Waschbecken installieren. Vielleicht werden vorerst einmal die Leitungen dazu gelegt. Aber man darf auch nicht aus mir durchaus nachvollziehbaren Gründen persönlicher Bequemlichkeit sich ausgerechnet in den Weg eines durchaus bestreitbaren Prozesses legen.

Diskussionswürdiger ist eher, ob eine normierende Rechtschreibung, die rechtsprecherisch unentwegt in Falsch und Richtig einteilt, überhaupt Sinn macht und ob es nicht vielleicht vernünftig wäre, die an die korrekte Rechtschreibung geknüpften Vorurteile zu hinterfragen? Denn eines bleibt in jedem Fall gewiss: Deutsch ist eine schwere Sprache.

*Beistrich = Komma


zeitungsausschnitt 2,1 MB